Barock- als Gegenwartsoper
Zu Francesco Brianis und Leonardo Vincis Gismondo

Von Dr. Boris Kehrmann

Leonardo Vincis Dramma per Musica Gismondo, Re di Polonia wurde 1727 für Rom komponiert. Es basiert auf einem 20 Jahre älteren Libretto, das der Venezianer Francesco Briani für den Komponisten Antonio Lotti geschrieben hatte. Aufgeführt wurde Briani/Lottis Gemeinschaftswerk Anfang 1709 zu Ehren König Fredericks IV. von Dänemark im damals führenden Theater Venedigs, dem San Giovanni Grisostomo. Vier der sieben Darsteller brachten dort eine Spielzeit später Händels Agrippina zur Uraufführung. Der junge Sachse holte sie später nach London und schrieb ihnen einige seiner wichtigsten Rollen. Lottis Superstars waren die Kontraltistin Francesca Vanini Boschi mit einem Stimmumfang von zweieinhalb Oktaven als Ernesto sowie der Soprankastrat Matteo Sassani, "die Nachtigall von Neapel", als Otone. Für sie sah Lotti mit neun und acht Arien die meisten Gesangsnummern der Partitur vor.

I. DAS LIBRETTO

Der neunwöchige Aufenthalt des dänischen Königs war die gesellschaftliche Sensation des Karnevals 1708/09. Er hinterließ nachhaltige Spuren in der Kulturgeschichte der Lagunenstadt. Frederick reiste mit einem Gefolge von über 70 Personen an, besuchte Theater- und Opernvorstellungen, bedachte die Glasmanufakturen von Murano mit Aufträgen für seine neu erbauten Schlösser in Dänemark, nahm das Zeughaus, die berühmten Armorie, in Augenschein und war Gast einer ihm zu Ehren veranstalteten Regatta auf dem Canale Grande, die Luca Carlevarijs in einem spektakulären Gemälde festhielt. In der Widmung seines Librettos preist Briani den 37-jährigen Monarchen als ebenso friedliebenden wie wehrhaften Idealherrscher. "Ihre Tapferkeit und Weisheit wird von allen Nationen gefürchtet und respektiert. Daher will niemand ihren Zorn erregen, sondern alle möchten sie zum Freund gewinnen. Gut 50.000 Soldaten beschützen den Frieden nicht weniger als die Überlegenheit ihrer Staaten und Reiche und gut weitere 20.000 werden in weiteren Provinzen Friedenspalmen und Lorbeer erringen." Darauf nimmt der Schlusschor Bezug.

Widmungsschreiben wurden damals gelesen. Sie waren ein wichtiger Bestandteil jener Büchlein, Libretti, die wie heute Programmhefte an der Theaterkasse verkauft wurden und Besetzung, Inhalt, Schauplätze der Handlung, erklärende Texte sowie den Text der Oper enthielten. So konnte jeder sehen, dass Il vincitor generoso – so hieß Briani/Lottis Werk – jene Eigenschaften besaß, die der Dichter ihrem Widmungsträger zuschrieb. Das Stück sollte der Welt im Bilde Gismondos die Tugenden Fredericks als eines großmütigen Siegers kundtun. Und da der uns sonst nur als Autor eines weiteren Opernbuchs (Grundlage für Händels später vertonten Riccardo Primo) bekannte Briani gleich zu Beginn der Widmung betont, es handle sich um seine erste Oper, könnte er sich dem prachtliebenden Monarchen damit als Hofdichter und –historiograf, d.h. als Chef der Königlich Dänischen PR-Abteilung empfohlen haben. Das erklärt die Wahl des Stoffs, die Dramaturgie und den Inhalt des Librettos. Il vincitor generoso ist ein auf den dänischen König abzielendes Propagandainstrument eines Intellektuellen, der aufgrund seiner Jugend und seines Ehrgeizes bemerkenswert unbekümmert mit den Konventionen der Opera seria umgeht. Das macht den Text so ungewöhnlich. Und da sich Leonardo Vinci 20 Jahre später bei seiner Neuvertonung mit Ausnahme der Arien nahezu wörtlich daran hielt, müssen wir seine Subtexte verstehen, um unsere Oper zu verstehen.

1. Schicht: Staats- und Lebensphilosophie (Struktur)

Die Absicht von Il vincitor generoso ist das Herrscherlob. Gismondo und Primislao werden uns als Kontrastbeispiele guter und schlechter Herrschaft vor Augen geführt. Deren Kriterien leiten sich aus der Staatsphilosophie der antiken Stoa her. Die Humanisten des frühen 16. Jahrhunderts lasen und interpretierten deren Schriften, insbesondere diejenigen Senecas neu und lösten eine Mode aus, die das Politikverständnis der folgenden zwei Jahrhunderte nahezu alternativlos bestimmte. Da hinter dieser Staats- eine allgemeine Lebensphilosophie als Lehre vom Guten überhaupt steht, war das Beispiel der beiden Herrscher auch für ungekrönte Häupter lehrreich.

Gismondo handelt nach dem stoischen Grundsatz des Logos, des rationalen Denkens. Daraus ergeben sich seine Sekundärtugenden constantia, clementia und fortitudo. Wer sich ausschließlich von der Vernunft leiten lässt, handelt einerseits konsequent, also berechenbar, was noch heute als staatsmännische Tugend gilt, wie der Diskurs um den aktuellen amerikanischen Präsidenten zeigt. Andererseits beherrscht er seine eigenen Leidenschaften und spontanen Impulse. Wer dies nicht tut, wird von ihnen wie das Schiff auf stürmischer See von Wind und Wellen haltlos hin- und hergeschleudert, bis Fortuna ihn scheitern oder gnädig in den rettenden Hafen einlaufen lässt. Darauf basiert ein Großteil der Metaphorik in Gismondo. Der Unbeherrschte liefert sich Fortuna aus. Er verliert seine Autonomie. Den Zuschauer davor zu warnen, ist der Grund, warum die Sturmarie und ihr Korrelat, die Felsenarie (man denke an Fiordiligi in Così fan tutte), in der Barockoper so beliebt waren. Wer Vernunftgrundsätzen folgt, vermag den Zufällen des inneren und äußeren Lebens wie ein Fels in der Brandung standzuhalten. Er beweist constantia = Beständigkeit. Sie ist die Haupttugend der Opera seria. Ihre staatsmännische Entsprechung ist die Zuverlässigkeit. Die Emblematiker des Barockzeitalters, die die abstrakten Lebensregeln der Philosophie in Bildersprache, eine Frühform des Cartoons übersetzten, um ihr Verständnis, Erlernen, Behalten und Anwenden zu erleichtern und damit ein riesiges Bildreservoir für Oper, Schauspiel, Malerei und Skulptur schufen, stellten das Bild des Felsen in der Brandung unter das Motto "Immota triumphans – Wer ungerührt bleibt, triumphiert". Das wird uns an Gismondo vorgeführt, denn die Barockoper ist eine Art bewegtes Emblem, ein singendes und klingendes Schaubild. Constantia garantiert dem Herrscher geradezu naturgesetzmäßig den Sieg. Indem Briani dies an Gismondo vorführt, sagt er seinem Widmungsträger den Sieg schmeichelhaft voraus.

Die Vernunft besiegt nicht nur die äußeren, sondern auch die inneren Feinde. Das sind die zerstörerischen Leidenschaften Neid, Jähzorn, Rachsucht und Hochmut, die das christliche Mittelalter, auf den Schultern der Stoa stehend, zu Todsünden erklärte. Daraus resultiert die Herrschertugend der clementia oder Milde, die Seneca in der gleichnamigen Schrift seinem Schüler, dem jungen Kaiser Nero, erfolglos empfahl. Schon Seneca argumentierte, die Demonstration von clementia sei nötig, um Herrschaft zu sichern, denn unangefochtene Herrschaft beruhe auf der Zustimmung der Beherrschten. Machiavelli hielt 1513 dagegen, gewaltfreier Machterhalt sei ein frommer Wunsch. Fürsten sollten darauf achten, sich bloß den Schein der Milde zu geben, auch wenn sie gezwungen seien, zu unmoralischen Mitteln wie Gewalt, Lüge, Verrat zu greifen. Dem Herrscher sei dergleichen im Gegensatz zu anderen Menschen erlaubt, da er im Dienste der Staatsräson handle, dadurch Ruhe und Ordnung aufrechterhalte und so dem Wohl der Mehrheit diene. Das Thema der clementia fand Ende des 17. Jahrhunderts standardmäßig in den Herrschaftsdiskurs barocker Opernlibretti Eingang, bevor Pietro Metastasio es 1734 mit seiner über 50 Mal vertonten und in allen möglichen Varianten nachgeahmten Clemenza di Tito auch im Titel hervorhob. Da war ihre staatsphilosophische Rechtfertigung schon so oft wiederholt worden, dass er auf sie verzichten konnte. Bei Briani war clementia zwar auch nicht mehr neu. Aber es lohnte sich, noch einmal daran zu erinnern und vorzuführen, warum sie eine wichtige Herrschertugend war. Darum führt Brianis Handlung noch einmal den gesamten Begründungszusammenhang quasi in Aktion vor: das System der vier Herrschertugenden logos, constantia, clementia und fortitudo, die wie ein Mechanismus, ein Uhrwerk in einander greifen. Gismondos Handlungen sind eine einzige Kette von clementia-Beweisen. Er lässt ständig Milde walten, Gnade vor Recht ergehen. Im 1. Akt verzeiht der "großherzige Sieger" Primislao seinen zähen Widerstand, unruhigen Geist, Vertragsbruch und geht auf alle seine Bedingungen ein. Im 2. Akt demütigt sich der König soweit, sich trotz seiner Unschuld bei Primislao öffentlich für dessen Bloßstellung vor den Soldaten zu entschuldigen und die sofortige Suche nach dem Schuldigen anzuordnen. Im 3. Akt verzeiht er dem Unterlegenen den blutigen Krieg, den dieser vom Zaun gebrochen hat. Gismondos Handeln ist die Illustration einer Staatsmaxime, die der römische Dichter Vergil in ein Geflügeltes Wort gegossen hatte, das die Gebildeten im Lateinunterricht auswendig lernten: "Schone die Unterworfnen und ringe die Trotzigen nieder" (Aeneis, VI, 853). Clementia ist nach logos und constantia eine der vier die Haupteigenschaften Gismondos.

Aus vernunftgeleitetem Handeln resultiert die vierte, fortitudo, Tapferkeit und Stärke, denn wer sich von Vernunft leiten lässt, erkennt das Richtige. Er geht mit Überzeugung in den Kampf, um das Gute zu verteidigen und weiß etwaige Affekte wie Angst oder Verzweiflung in aussichtslosen Lagen zu bändigen. Auch dies tut Gismondo ohne Zögern, als Primislao Polen den Krieg erklärt. Gismondos Krieg ist kein Krieg der Affekte wie derjenige Primislaos, sondern ein Krieg der Vernunft. Gismondo gleicht Shakespeares Idealkönig Heinrich V., der von sich sagt, er habe seine Affekte so unter seiner Kontrolle, wie die gefangenen Rebellen, die in seinen Kerkern angekettet seien.

Primislao ist in allem Gismondos Gegenteil. Wo dieser sich vom logos leiten lässt, ist Primislaos Denken ein Spielball der Leidenschaften. Wo Gismondo Beständigkeit beweist, ist Primislao sprunghaft bis zur Lächerlichkeit. Wo Gismondo milde erscheint, ist Primislao ein Ausbund an Jähzorn und Grausamkeit. Und obwohl Primislao Tapferkeit bescheinigt wird, muss er dem Tapfereren weichen. Den Grund führt uns Briani vor Augen. Primislao handelt aus neurotisch übersteigerter Ehrsucht und Geltungsbedürfnis. Die Psychologie würde ihm Ich-Schwäche attestieren. Das Barock bescheinigt ihm einen Mangel an Vernunft. Sein politisches Hasardspiel hätte dem Draufgänger um ein Haar Reich und Leben gekostet, hätte sich Gismondo nicht milde, clemens, gezeigt. Am Ende hat Primislao stellvertretend für den Zuschauer etwas gelernt. Der logos siegt auch in ihm und bringt ihn, den Schwächeren, zu der Einsicht, dass es nicht ehrlos, sondern vernünftig, also ehrenvoll ist, sich dem Idealherrscher unterzuordnen, wie dies bei Briani Ernesto und Ermano tun. Primislao ist die Verkörperung chaotischer Anarchie = Abwesenheit der Herrschaft des logos.

2. Schicht: Tagespolitik (Stoff)

Dies ist die philosophische Ebene des Stücks, die ihm seine Struktur verleiht. Die historische erzählt eine konkrete Geschichte und verleiht der Theorie Anschaulichkeit. Eigentlich sind es zwei Geschichten, die wie in einem doppelt belichteten Foto gleichzeitig präsent sind: eine alte und eine neue. Die alte und dominante ist der Stoff des Librettos aus der polnischen Geschichte; die neue setzt sich aus tagesaktuellen Anspielungen zusammen und schwingt immer mit. Der Stoff ist Material, das der Dichter frei bearbeiten darf, wie Briani im Vorwort seines Librettos betont. Da ein Dramatiker kein Historiker, ein Drama kein Geschichtsbuch sei, dürfe er frei, nur auf dramatische Wirkung bedacht mit historischen Fakten umgehen. Der Stoff aus der polnischen Geschichte ist das Trägermedium der Allegorie Fredericks IV. Er wird mit Anspielungen auf Zeitgenössisches gespickt, damit sich die Allegorie dem Leser oder Zuschauer verrät. Man kann das Verfahren mit den an venezianischen Operninszenierungen orientierten Fresken und Gemälden der Malerfamilie Tiepolo – Zeitgenossen Brianis und Vincis – vergleichen, wo die antiken Heldinnen und Helden Alexander, Cleopatra, Zenobia usw. in Kostüm und Gebaren auch immer wie Menschen der Gegenwart erscheinen. Anders als in den Bildenden Künsten und in der Literatur galt die Darstellung lebender Regenten auf der Bühne aber als unpassend, weshalb man zur Camouflage greifen musste. Wir dürfen annehmen, dass Briani es darauf anlegte, dass zumindest Frederick seine Anspielungen erkannte, als Kompliment verstand und registrierte, wie genau sich der Librettist in die dänische Geschichte eingearbeitet hatte, um sich als Hofhistoriograf zu empfehlen. Wir aber müssen diese Anspielungen verstehen, um zu erkennen, warum die Figuren handeln, wie sie handeln. Barocklibretti sind zwar standardisiert. Aber sie sind nicht sinnlos.

Warum ein polnischer Stoff?

Hinter Primislao mit seinem aufbrausenden Naturell verbirgt sich Fredricks Gegenspieler Herzog Friedrich IV. von Holstein-Gottorf. Dessen Stockholmer Exzesse mit seinem Schwager, Fredericks Erzfeind, dem König von Schweden, waren notorisch. Staatsrechtlich gesehen gehörte sein Holsteiner Besitz zu Dänemark. Die dänischen Könige hatten das Haus Gottorf im 16. Jahrhundert damit belehnt. Darum war der Lehnsnehmer verpflichtet, dem Lehnsgeber von Generation zu Generation erneut den Lehnseid zu leisten. Die Herzöge strebten aber nach Unabhängigkeit. Das Verhältnis zu den dänischen Nachbarn war von Anfang an gespannt. Darauf spielt Primislaos Versuch, den Lehnseid, die öffentliche Unterwerfung zu umgehen an. Friedrich heiratete die Schwester Karls XII. von Schweden und öffnete Schwedens Truppen Holsteins Festungen. Damit war Dänemark umzingelt. Im März 1700 marschierte Frederick in Absprache mit seinen Bündnispartnern Sachsen-Polen und Russland in Holstein ein und löste damit den Großen Nordischen Krieg aus. In der Oper besiegt Gismondo/Frederick (Dänemark) Primislao/ Friedrich (Holstein). Die Wahrheit sah anders aus. Die Flotten Schwedens, Englands und Hollands eilten Holstein zur Hilfe. Sie wollten kein starkes Dänemark, das ihren Interessen schadete. Im August 1700 musste Frederick den Friedensvertrag von Travendal unterzeichnen. Das verschweigt Brianis Libretto, um stattdessen lieber schmeichelnd in die Zukunft zu schauen. Frederick nutzte den erzwungenen Frieden, der ihn Holstein kostete, nämlich, um seinen Staat und seine Armee nach machiavellischen Prinzipien umzugestalten, schlagkräftiger zu machen und sich die Oberhoheit über die verlorenen Gebiete zurückzuholen, sobald sich Gelegenheit bot. Darauf spielen der eingangs zitierte Passus der Widmung und der Schlusschor an: "Gut 50.000 Soldaten beschützen den Frieden nicht weniger als die Überlegenheit ihrer Staaten und Reiche und gut weitere 20.000 werden in weiteren Provinzen Friedenspalmen und Lorbeer erringen."

Diese Gelegenheit zeichnete sich ab, als Briani sein Libretto schrieb, denn Karl XII. von Schweden zielte auf die Hegemonie über die Anrainerstaaten des Ostseeraums. Also griff er gleich nach Fredericks Niederlage Polen-Litauen an, das in Personalunion von August dem Starken von Sachsen regiert wurde. Der Krieg war schwer, wurde aber nach sieben Jahren zugunsten Schwedens entschieden. Gleich anschließend attackierte Karl XII. Russland. Der langjährige polnisch-litauische Kriegsschauplatz veranlasste Briani, seiner Oper einen Stoff aus der polnisch- litauischen Geschichte zugrunde zu legen, um Frederick zu huldigen. Das war ein Wink mit dem Zaunpfahl. Jeder wusste, welche Rolle der dänische König in Schwedens Eroberungsplänen spielte. Außerdem hatte Karl XII. nach Absetzung Augusts des Starken in Warschau mit Stanisław Leszczyński einen polnisch-litauischen Marionettenkönig installiert, von dessen Anmaßung ein Stück auf den Primislao der Oper zurückstrahlte. Drittens kündigte sich im Jahrhundertwinter 1708 Schwedens lang erwartete Niederlage an, die ein halbes Jahr nach der Uraufführung des Vincitor generoso bei Poltawa tatsächlich eintrat. Sie ermöglichte Frederick von Dänemark jene Revanche, die die Oper schon im Voraus feiert. Das Stück rechtfertigt also nicht nur Fredericks Krieg gegen Holstein im Jahre 1700, indem es vor Augen führt (die heutige Theaterwissenschaft würde sagen: re-enacted), wie ungerechtfertigt es von dessen Herzog war, dem König den Lehnseid zu verweigern. Es schwärzt auch Fredericks großen Gegenspieler Karl XII. als verantwortungslosen Kriegstreiber, Unruhestifter und Hasardeur an, dem Gismondo = Frederick im Interesse einer stabilen europäischen Friedensordnung und des in der Oper immer wieder beschworenen "comun bene” (Gemeinwohl) Einhalt gebieten muss, soll der Kontinent endlich zur Ruhe kommen. "Unter Ihrem erhabenen Schutz erfreut sich Dänemark der Wohltaten des Friedens", heißt es in der Widmung: "Schon rast die Wut der Waffen voll Blutdurst und zerstampft nahezu alle anderen Provinzen. Doch wenn die Wut der Waffen die Grenzen Eures Reichs und Eurer ausgedehnten Ländereien erreicht, küsst sie ehrfürchtig jene Dämme, die ihr gegen sie errichtet habt, und wagt es nicht, diese Herrschaften mit ihrem Wahnsinn in Aufruhr zu versetzen, in denen ein so ruhmreicher Monarch friedfertig thront." Das Stück rechtfertigt also vorausschauend Dänemarks Wiedereintritt in den Krieg gegen Schweden, mit dem Frederick im Sommer 1709 den Vertrag von Travendal brach.

Nebenhandlungen

Aber nicht nur der Gegensatz der beiden Herrscherfiguren ist aus der konkreten Tagespolitik und dem propagandistischen Zweck des Librettos abgeleitet, sondern auch die Nebenhandlung. Mit Ernesto, Fürst von Livland, spielt Briani auf Johann Reinhold von Patkul an, dessen Schicksal das politische Europa erregte. Der livländische Rittergutsbesitzer verteidigte Livland gegen den Landhunger der schwedischen Krone, wofür er zum Tode verurteilt wurde. Er konnte fliehen und schmiedete 1699 als Diplomat in polnisch-sächsischen Diensten die antischwedische Allianz mit Dänemark-Norwegen und Russland. Eine Bedingung des Altranstädter Friedens 1707, den August der Starke nach seiner endgültigen Niederlage unterzeichnen musste, war die Auslieferung Patkuls an Schweden, wo dieser auf barbarische Weise hingerichtet, nämlich gerädert und gevierteilt wurde. Dieser politische Skandal spiegelt sich in der 5. und 6. Szene des 1. Akts unseres Librettos, wo Primislao dem in diplomatischer Mission bei ihm vorsprechenden Fürsten von Livland droht: "Deine diplomatische Immunität macht dein Mundwerk zu freimütig. Pass auf, dass mich deine Kühnheit nicht die Kühnheit des Selbstherrschers lehrt, dich zu bestrafen." Bei Lotti ist Ernesto mit neun Arien die musikalische Hauptfigur. Sein Fall war im Januar 1709 noch frisch in Erinnerung. Vinci wird die Schwerpunkte zwanzig Jahre später anders verteilen. Auch die kuriose Anwesenheit eines mährischen Fürsten auf dem polnisch-litauischen Kriegsschauplatz, Ermano, ist ein tagesaktueller Fingerzeig. Sie verdankt sich der Beteiligung dänischer Truppen an der Niederschlagung des Rákóczi-Aufstands in Ungarn. Um sein riesiges Heer, das durch den Vertrag von Travendal zur Untätigkeit verdammt war, für den späteren Krieg gegen Schweden zu halten und zu finanzieren, vermietete Frederick Teile davon an das Haus Habsburg. Als Briani sein Libretto schrieb, verhandelte Frederick gerade über deren Rückführung auf den nordischen Kriegsschauplatz. Der mährische Fürst in Polen spielt auf diese Rückkehrer an.

3. Schicht: Geschichte (Unterbau)

Die Trägersubstanz, der diese tagespolitischen Lichter aufgesteckt sind, um die Botschaft zumindest für den direkt angesprochenen Adressaten "lesbar" zu machen, führt uns in die Zeit der polnischen Einigungskriege rund um den von König Sigismund II. August einberufenen Reichstag von Lublin zurück, der vom 10. Januar bis zum 12. August 1569 tagte. Zwölf Jahre zuvor hatte der polnische König ein Schutzbündnis mit der Livländischen Konföderation geschlossen und sie gegen moskowitische Invasoren verteidigt, was Briani Gelegenheit gab, den fiktiven Fürsten von Livland als Muster feudaler Lehnstreue einzuführen und durch ihn auf die Patkul-Affäre anzuspielen. Nun ging es darum, in einem komplizierten diplomatischen Verhandlungsprozess mit dem litauischen Adel auch das Bündnis mit dem Großherzogtum Litauen zu stärken, und hier setzen auf der historischen Ebene die Komplikationen der Oper an, die wie oben gezeigt, tagespolitisch aktualisierbar waren. Die Oberherrschaft = "Souveränität" des polnischen Königs über das gesamte Unionsgebiet, muss staatsrechtlich dadurch abgesichert werden, dass der litauische Adel ihm feierlich den Lehnseid, "fede", leistet. Primislao, der fiktive Herzog von Litauen, kann dies nicht mit seinem Gewissen vereinbaren. Er sieht darin seine "maestá" beeinträchtigt. Die Oper versucht diesen Konflikt in zwei Schritten zu lösen. Im 1. Akt wird ausgehandelt, dass Primislao den erniedrigenden Gestus der Unterwerfung nicht öffentlich vollziehen muss, sondern, den Blicken seiner Streitkräfte entzogen, im Kriegszelt Gismondos. Da Ermano, der ebenfalls fiktive Fürst von Mähren, seinen von Primislao im Krieg erschlagenen Bruder rächen will, bringt er das Zelt während der feierlichen Zeremonie zum Einsturz und stellt so den erniedrigten Primislao dem Blick seiner Soldaten bloß. Der so heraufbeschworene Rachefeldzug Primislaos kommt erst durch einen weiteren Akt der Großmut des Siegers Gismondo zu einem Ende, der Primislao endlich zu der Einsicht bringt, dass Gismondo nur das Beste für seine beherrschten Provinzen will. Diese doppelt bewährte "clemenza" Gismondos und die daraus resultierende Einsicht Primislaos ist die Botschaft eines Librettos, das frei zwischen seiner tagespolitischen und seiner historisch-fiktionale Schicht hin- und herflottiert. "Dies ist ein Gedankenkonstrukt", erklärt Briani im Vorwort des Librettos an den Leser: "Darum bitte ich dich, mich von der Chronologie zu entbinden, an die ich mich nicht halten wollte. Die Handlung durfte sich an historische Ereignisse anlehnen, die du leicht herausfindest, wollte ihren Wert aber aus der Fantasie beziehen." Sie funktionierte auf beiden Ebenen: sowohl rein werkimmanent auf der der "historischen" Handlung als auch metaphorisch auf die Gegenwart bezogen. Diese Doppelcodierung macht die Botschaft des Librettos stark. Sie erhebt Fredericks Verhalten in den Rang des Dauernden, Gültigen, Exemplarischen, also Richtigen. Sowohl in der Union von Lublin als auch 130 Jahre später im Großen Nordischen Krieg ging es um dasselbe Territorium. Alle Akteure des aktuellen Kriegs wie auch die bloß Zuschauenden, zum Beispiel von Venedig aus, einem Zentrum europäischer Diplomatie, in dem sich Frederick ja gerade aufhielt, sollten wie Primislao begreifen, dass Fredericks Hegemonie nur zu ihrem Besten ausschlüge. Sie sollten einsehen, dass es um den Frieden gehe und wie man den unberechenbaren Herzog zivilisieren, das heißt in den Völkerbund unter polnischer = dänischer Hegemonie segensreich und nachhaltig einbinden könne.

4. Schicht: Wie wirkt das barocke Drama oder Die Funktion der Erotik

Il vincitor generoso erinnert mit seinen langen Rezitativen, klugen politischen Dialogen, tiefsinnigen Sprachbildern und Szenen auf dem Schlachtfeld eher an die politischen Schauspiele eines Andreas Gryphius oder Daniel Caspar von Lohenstein, ja an Shakespeares Königsdramen und Heinrich von Kleist als an ein italienisches Opernlibretto. Otone und Cunegonda ringen um ihre Liebe wie Ottokar und Agnes von Schroffenstein bei Heinrich von Kleist, Otone um den Kriegsbefehl seines Vaters wie der Prinz von Homburg, Cunegonda hasst den Geliebten wie Penthesilea, Primislao richtet sich an sein Heer wie Macbeth oder Heinrich V., die Szene vor den Statuen der Kriegsgötter und polnischen Könige in seiner Rüstkammer bekommt etwas Nekromantisches wie Shakespeares Glendower, Ermano, der Richter als Täter, nimmt den Zerbrochenen Krug vorweg usw. Politische und staatspolitische Erörterungen nehmen mehr Raum ein, als in vielen anderen Barocklibretti. Die erotischen Verwicklungen sind nie jenes kokette oder alberne Geflirte und Geschmolle, wie in so vielen Libretti Vivaldis oder Händels, sondern treiben den philosophisch-politischen Diskurs in existenzielle Tiefen individuellen Fühlens. Die Politik greift in das Gefühlsleben der Menschen ein. Auf der erotischen Ebene wird das spürbar. In Brianis Libretto treibt sie die Protagonisten in Gewissenskonflikte, unmenschliche Entscheidungssituationen, verhindert Glück. Es sind Erfahrungen, die der Zuschauer nachvollziehen und damit die Folgen von Politik auch für ihn ermessen kann. Briani fordert in seinem Vorwort vom Leser und Zuschauer denn auch "compatimento", Mitleiden. Eros steht in diesem Libretto zwar nicht auf gleicher Stufe wie der logos, tritt aber komplementär hinzu. Diese Verbindung von Intellekt und Gefühl entspricht barocken Vorstellungen von der Wirkungsweise der Kunst. Diese Wirkung wird in Il vincitor generoso nicht nur realisiert, sondern explizit in Reden wie implizit in der Handlung immer wieder auch thematisiert. Als Beispiel diene das 2. Bild des 1. Aktes. Primislao zieht sein gegebenes Wort, Gismondo den Lehnseid zu leisten, einem irrationalen Affekt folgend zurück. Cunegonda und Otone, die Kinder beider Herrscher, beschließen, ihm noch einmal ins Gewissen zu reden.

Otone: Wir wollen uns dem schwankenden Primislao an die Fersen heften. Unsere Liebe versuche, dieses Herz in einem neuen Anlauf zu bezwingen.

Cunegonda: So sei es. Aber geh zuerst du und allein dorthin, wo er im Verborgenen darüber nachdenkt, was zu tun ist. Sprich mit ihm, nenn ihm Gründe, überrede ihn. Dann will ich nachkommen, ihn anflehen und Tränen zuhilfe nehmen. Zuerst soll Otone Primislaos Herz mit Vernunftgründen bestürmen, dann will Primislaos Tochter die geschwächte "Festung" mit emotionalen Mitteln, Flehen und Tränen, zu Fall bringen. So geht nach barocker Vorstellung auch Kunst vor. Ein Vergleich mit den gleichzeitigen Libretti Händels oder Vivaldis zeigt aber, worin Il vincitor generoso besonders ist. Für Händel stand die Musik, also das Gefühl, so sehr im Vordergrund, dass er die Rezitative bis zur Unverständlichkeit der Handlung kürzte und die Abfolge der Arien oft zu reinen Gefühlsrangeleien machte. Bei Vivaldi sind die politischen Konflikte Folge erotisch-libidinöser Geschlechterkriege. Bei Briani kommt der Eros dem Logos zu Hilfe. Der politische Diskurs steht im Vordergrund, der erotische assistiert.

5. Schicht: Achtzehn Jahre später oder Ein englischer Thronprätendent und seine Feinde

Warum hat der neapolitanische Starkomponist Leonardo Vinci dieses von keinem anderen Musiker je wieder beachtete, vielleicht viel zu intellekutelle venezianische Libretto 18 Jahre später für Rom ausgegraben und nahezu wörtlich neu vertont? Hier legt sich eine fünfte Schicht über das Stück. Es gibt drei Gründe. Zum einen liebte es Vinci, wider den Stachel der Konvention zu löcken und sein Publikum zu überraschen. Zweitens hatte er ein Jahr zuvor mit Ernelinda in Neapel bereits Norwegen als operngeographisches Neuland entdeckt und setzte das Erfolgsrezept der unverbrauchten Schauplätze und Stoffe jetzt mit Polen fort. In der Regel erwartete das Opernpublikum antike oder mythologische Sujets aus dem erweiterten Mittelmeerraum. Dass auch "am Nordpol" die Sonne aufgehen konnte, war eine überraschung. Den Hauptgrund enthüllt jedoch wieder die Widmung. Sie ist, wie die meisten Opern, die in den 1720er Jahren am Teatro delle Dame aufgeführt wurden, an James Edward Stuart adressiert. Der katholische Thronprätendent, der sich seit 1714 in drei gescheiterten Aufstandsversuchen mit den Hannoveranern um die englische Königskrone stritt, lebte im römischen Exil. Der Heilige Stuhl unterstützte ihn mit einer generösen Rente in der Hoffnung, Großbritannien wieder unter den Einfluss der katholischen Kirche zu bringen. Der Konflikt zwischen Gismondo und Primislao war also auf James übertragbar. Vinci hatte diese Strategie schon bei seinen anderen beiden römischen Opern, Farnace, 1724, und Didone abbandonata, 1726, angewendet.

James residierte als Schattenkönig im Palazzo Monti, einen Steinwurf vom Theater entfernt. Während der Karnevalszeit verbrachte er dort fast jeden Abend, um seine Frustration zu vergessen, und pflegte mit seinen Kavalieren und Hofdamen in seiner Loge zu soupieren. Er war mit der polnischen Prinzessin Maria Clementina Sobieska verheiratet. Ein Libretto aus der polnischen Geschichte kam also wie gerufen. Vinci stieß die Leser mit der Nase darauf, indem er den Titel änderte und im Libretto unter Gismondo / Re di Polonia in gleicher Größe die Widmung Giacomo III. / Rè della Gran Brettagna setzte, was der Geehrte de facto zwar nicht war, aber zu sein beanspruchte. Das Titelblatt wirkt wie eine Gleichung. James kam nicht umhin, in Gismondo sich selbst und in dem rebellischen Primislao das Haus Hannover zu erkennen, das dem rechtmäßigen König Großbritanniens den Treueid verweigert. Baron Pöllnitz, der weit gereiste Klatschautor aus europäischen Adelskreisen, berichtet, alle Gedanken und Gespräche James’ hätten krankhaft um die Wiedereroberung Englands gekreist. Es war also leicht, ihm zu schmeicheln. Dramaturgisch nahm der Komponist nur zwei Änderungen vor. Zum einen liebt Gismondos Tochter Giuditta bei ihm in einem geschickt eingefügten Handlungsstrang den haltlos zerrissenen Feind ihres Vaters. Die eingeschobene Szene am Schluss des 1. Akts, in der sie ihrem Bruder ihre erste Begegnung mit Primislao auf dem Warschauer Maskenfest als coup de foudre schildert, gegen den jeder Widerstand zwecklos ist, gehört wie die im 3. Akt, wo sie zwischen den Leichen auf dem Schlachtfeld den Geliebten sucht, zu den Glanzleistungen barocker Opernlibrettistik. Bei Briani ist Giuditta eine wenig profilierte seconda donna, die ihre erotische Macht sowie ihre fünf Arien ausspielt, um bei ihren beiden rivalisierenden Liebhabern Einsatz für den Kampf ihres Vaters zu generieren, und am Ende auf dessen Befehl ohne viel Leidenschaft den Herzog von Livland heiratet, damit die dynastischen Verhältnisse geklärt sind. Bei Vinci ermöglicht Primislaos Läuterung eine beidseitig leidenschaftliche Ehe mit der polnischen Prinzessin, sodass die höhere Weisheit des Eros, nachdem er als amour fou sein zerstörerisches Potenzial bewiesen hatte, nun als Komplementärfunktion zum logos kräftig aufgewertet wird. Spiegelt sich hierin die in der Gesellschaft heiß diskutierte leidenschaftliche Ehe Georgs II., der 1727 den englischen Thron bestieg, mit Caroline von Ansbach?

Die zweite, kleinere Änderung betrifft den Verräter Ermano. Bei Briani verliert er zur Strafe für seinen Verrat bloß die Hand Giudittas. Bei Vinci erkennt auch er die überlegene Weisheit Gismondos und bringt sich wie ein japanischer Samurai um, um seine Ehre wiederherzustellen: "Ich habe als Feiger gesündigt und richte mich als ein Starker." Das ist eine Anspielung auf John Erskine, Earl of Mar, der 1715 den Jakobitenaufstand befehligte. Einige Jahre nach dessen Scheitern wechselte er die Seiten und fiel darauf am Hofe James III. in Ungnade. Wieder ist der Selbstmord, den ihm die Oper andichtet, nicht Wirklichkeit, sondern Wunschdenken einer parteiischen höheren Gerechtigkeit. Dass Opernlibretti von den Zeitgenossen in dieser Weise als politische Allegorien verstanden wurden, berichtet der weitgereiste Gesellschaftsreporter Pöllnitz in seinen Memoiren.

II. ÜBERLIEFERUNG

Vincis Gismondo ist in drei nicht identischen Abschriften überliefert. Eine gehört zur Sammlung des römischen Priesters und Musikers Fortunato Santini (1777–1861), die heute in der Diözesanbibliothek in Münster aufbewahrt wird, und besteht aus unterschiedlichen Faszikeln, die 1727 und 1729 in Rom entstanden. Eine zweite wird in Hamburg (1. Akt) und Brüssel (2. und 3. Akt) aufbewahrt. Eine dritte, sehr saubere Abschrift aus dem Archiv der Berliner Singakademie gelangte als ehemalige sowjetische Kriegsbeute 2002 aus Kiev nach Berlin zurück. An ihr orientiert sich dieser Aufsatz. Zudem haben sich die Libretti sowohl der Lottischen als auch der Vincischen Uraufführung erhalten.

III. MUSIK

Vincis Partitur besteht aus der Sinfonia, 28 Arien, je einem Duett, Terzett und Schlusschor. Hinzu kommen eine "Marciata" (Marsch) zu Beginn des 3. Akts sowie acht Accompagnato-Rezitative. Die Hauptfiguren mit je fünf Arien sind Primislao, Cunegonda und Otone. Letztere haben auch das Duett, gemeinsam mit Gismondo das Terzett, sowie die Accompagnati. Es folgen Gismondo und Giuditta mit je vier Arien, Ernesto mit drei und Ermano mit zwei. Im Anhang des Santini-Materials, das auf Quellen des Uraufführungstheaters basiert, finden sich zusätzlich zwei Einlagearien für Cunegonda und Otone, die unverändert aus der 1726 uraufgeführten Ernelinda stammen.

Während Vinci Brianis Rezitative mit Ausnahme gelegentlicher Kürzungen, hier und dort eines ausgetauschten Worts und den beschriebenen dramaturgischen Eingriffen wörtlich übernahm, ersetzte er mit zwei Ausnahmen alle Arientexte. Ein Motiv scheint gewesen zu sein, deren Verteilung neu zu gewichten. Gismondo, der bei Lotti nur eine Arie singt, wird aufgewertet. Zu diesem Zweck schiebt Vinci im 1. und 2. Akt kurze Szenen ein. Im Gegenzug wird Ernesto mit neun Arien bei Lotti durch Striche auf drei bei Vinci herabgestuft. Primislao steht mit Cunegonda und Otone – bei Lotti vier, sechs und acht Arien – auf einer Stufe. Sie sind die musikalisch interessanten, zerrissenen Figuren.

Ein zweites Motiv ist das Streben nach leichterer Textverständlichkeit. Vincis Texte sagen meist dasselbe wie Briani, nur mit anderen Worten. Otones "Vuoi ch’io mora?" ersetzt z. B. Brianis gestelzten Anfangsvers "Mi vuoi morto" durch eine geflügelte petrarkistische Formel, die man seit der Renaissance hundertfach in der Liebesdichtung und Librettistik hörte. Man konnte den bekannten Inhalt also intuitiv erfassen und sich auf die Melodie konzentrieren, die das Herzstück der Vincischen Ästhetik ist. Vinci modernisiert den Wortlaut wo nötig, vereinfacht schwerfällige grammatische Konstruktionen und komplizierte Sprachbilder, passt die Verse an den empfindsamen Zeitgeist und neue musikalische Ideen an. In Otones erster Arie, "Vado ai rai delle sue stelle”, übernimmt er den ersten Vers wörtlich, um den Rest inhaltlich analog neu zu formulieren, in Otones "Assalirò" nur die B-Teil-Strophe, in Ernestos "D’adoravi" nur den A-Teil, in desselben "Partó" vier der sechs Verse, in Primislaos "Se al foco" nur den Inhalt bei komplett neuem Wortlaut, in Primislaos Kriegsarie zu Beginn des 3. Akts ergänzt er einen A-Teil usw.

Ein drittes Motiv ist Dynamisierung. Ernestos "Tutto sdegno" ist bei Briani eine reine Kriegsarie, die zum Kampf ruft. Vinci interpretiert sie um. Bei ihm kämpfen Zorn und Mitgefühl, also zwei kontrastierende Affekte, in Ernestos Brust. Otones "Vuoi ch’io mora?" macht einen lebendigen Dialog zwischen "ich" und "du" aus Brianis Text, der sich in verschachtelten Relativ- und Konditionalsätzen mit "wenn", "falls" und "solltest du" verheddert. Schließlich wird auch die Personenbeziehung dynamisiert. An zwei Stellen ersetzt Vinci die aufeinander folgenden Arien, in denen Cunegonda und Otone einander ihre Liebe ausdrücken, durch ein Duett. In der Mitte des 1. Akts (zwischen Ernestos "Tutto sdegno" und Primislaos "Nave altera") läuft das Rezitativ der Liebenden statt der Arien in ein berührendes, kleines Largo von fünf Versen aus, deren letzter sie unisono vereint. Das ist nichts weiter als eine ariose Schlusskadenz, die die pompöse Konvention der Arienkette empfindsam durchbricht und den Handlungsgang beschleunigt. Der Schluss des 2. Akts wird durch den Höhepunkt eines großen Liebesduetts gekrönt, das Vinci aus Ernelinda übernahm. In beiden Fällen werden die bei Lotti isoliert singenden Partner im Zwiegesang vereint. Es ist, als würden sich ihre Stimmen in der vokalen Umschlingung küssen.

Viertens gibt es auch in Gismondo standardisierte Gleichnisarien, die man "Kofferarien" nannte, weil sie in jeder anderen Oper zum Einsatz kommen konnten und unabhängig vom Stück reiner Virtuosität dienten. Primislaos Sturm-, Otones Nachtigallen-, Ermanos Hirsch- und Giudittas Flussarie gehören dazu. Möglicherweise stammen auch sie aus anderen Werken wie Gismondos "Se soffia irato il vento" aus Ernelinda, wo Vinci das Schiff einfach durch eine Taube ersetzte.

Insgesamt wirken die Textänderungen, als seien sie spontan aus dem Kompositionsprozess hervorgegangen. Das lässt vermuten, dass Vinci sich sein Libretto selbst während der Arbeit anpasste und keinen Librettisten hinzuzog. Händel hielt es teilweise genauso.

Vincis Orchestersatz besteht aus Streichquartett mit Basso continuo. 22 der 31 Vokalnummern weisen reine Streicherbesetzung auf, vier davon als Trio ohne Bratschen. In Otones "Vado", Ermanos "Se col senno" und Primislaos "Va, ritorna" spielen Oboen die Geigenstimmen colla parte mit und färben sie um. Die Begleitung ist in der Regel vier-, gelegentlich auch dreistimmig, ohne größere kontrapunktische oder harmonische Ablenkungen. Meist gibt sie die Melodie vor, lässt den Puls des Affekts im Untergrund schlagen oder koloriert lang ausgehaltene Vokalnoten. Die Stimme, der Mensch, steht im Vordergrund. Hinzu treten bei einem Drittel der Arien Effektinstrumente mit symbolischer Bedeutung. Durch Primislaos Sturmarie "Nave altera" pfeifen die Oboen wie Böen. In Otones "Quell‘ usignolo" imitieren Blockflöten den Nachtigallenschlag. Die Hörner tragen Nachtstimmung bei. Ernestos "Tutto sdegno" und Otones "Assalirò" verleihen die Königen und Standespersonen vorbehaltenen Hörner heroisches Flair. In Otones "Vuo ch’io mora?" verwickeln zwei Fagottini – eine Oktave höher klingende Fagottinstrumente – die Geigen in einen apart-schmerzlichen Dialog und spiegeln so den dialogischen Text. Primislaos Aufruf zur Schlacht "Vendetta" wird durch die Militärinstrumente Trompete und Oboe charakterisiert.

Musikalische Höhepunkt sind zwei Ombraszenen Cunegondas, Beschwörungen der Totenwelt. Die kleinere im 3. Bild des 2. Akts, "Eterno, memorabile", belegt den Namen Gismondos wie ein Voodoozauber mit einem Blutschwur, während die Streicher nach dem Vorbild französischer Barockzauberinnen in wilde Streicherfiguren ausbrechen und die morbide Gräbermode späterer Komponisten bis hin zum jungen Mozart und Spontini vorausnehmen. Sie wird übertroffen durch Cunegondas shakespearische Horrorvision "Ah, si ti veggo in negro ammanto" auf dem Schlachtfeld des 3. Aktes, in der der tote Vater der unter ihrer Gewissensnot zusammenbrechenden Tochter seine Wunden als "süße Früchte deiner teuren Liebe" zu Otone vorweist. Schwer lastende, verminderte Akkorde vergiften in den Oberstimmen die Atmosphäre, während ein chromatisch fallender Bass voll wutbebender Tonwiederholungen direkt in die Hölle hinabsteigt, bevor das Orchester unisono mit dem eingebildeten väterlichen Fluch über das arme Opfer herfällt. Mit immer größeren Zickzacksprüngen steigert sich Cunegonda in ihrer anschließenden d-Moll-Arie "Ama chi t’odia ingrato" in hysterische Krämpfe hinein.

Da Gismondo für Rom komponiert wurde, waren auch die Frauenpartien mit Männern besetzt. Papst Sixtus V. hatte 1588 unter Berufung auf 1. Korinther 14, 34 dekretiert, dass Frauen im Kirchenstaat nicht öffentlich auftreten durften. "Es gibt nichts Lächerlicheres", schreibt Pöllnitz über Vincis Wirkungsstätte, das Teatro delle Dame, "als diese Halbmänner, die Frauen darstellen. Sie wirken weder wie Frauen noch haben sie deren Anmut, und doch jubelt man ihnen zu, wie an anderen Orten den besten Darstellerinnen." Vier Jahre nach der Uraufführung von Gismondo fügte er, den Aufführungsstil dieses Theaters beschreibend, hinzu: "Meiner Meinung sollte man eine solche Darbietung nicht Oper, sondern Konzert nennen."